Komm! Sei still und lasse mich dich einmal noch betrachten, bevor du dich vor mir ganz entblößt. Stück für Stück, mal schnell, mal im Zeitlupentempo alles fallen lässt.
Mit den Augen will ich dich verschlingen, deine zarten Glieder sanft mit den Fingerspitzen berühren. An ihnen entlang gleiten bis zu den Wurzeln deines Seins. Deinen Duft will ich in mir aufnehmen, wie ein schlichter Becher voller Dankbarkeit den kostbarsten Wein.
Empfangen will ich dich mit offenen Armen, voller Ehrfurcht vor deiner Pracht auf die Knie fallen, bewundernd zu dir aufschauen. Zieh für mich dein schönstes Gewand an. Tauche ein in Sonnengelb und warmes Umbra. In jenes tiefe Rot das deinem Temperament entspricht, und das in mir die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit entfacht.
Wie unendlich schön du bist!
So schön, dass mir die Augen trüb vor Freudentränen werden. Doch wäre ich blind, würde ich dich an deiner Melodie erkennen. An jener ungeschriebenen Sinfonie, die meine Sinne streift wie ein sinnlicher Kuss meinen Nacken. Hingehaucht, kaum spürbar und doch so unendlich innig. Der wie ein wohliger Schauer Wirbel für Wirbel an meinem Rückgrat hinabgleitet.
Ich höre meinen Atem, spüre deine Energie. Höre dein Libretto. Es erzählt von Sein und Vergehen, von Liebe und Leid, von Hell und Dunkel. Und während ich meine Augen schließe, geht dein Atem schneller, bäumst du dich auf, setzt zum Trommelwirbel an und stürzt dich mit letzter Kraft ins finale Ende.
Hol noch einmal Luft, bevor deine Schönheit vergeht. Bevor du dich vor mir ganz entblößt. Stück für Stück. Im Zeitlupentempo. Den Augenblick des Todes in der Hoffnung auf die ewige Unvergänglichkeit vor dir herschiebend. Ich nehme deinen letzten Atemzug in mir auf. Voller Dankbarkeit. Höre mich flüstern: Halt mich, bleib! Doch das letzte Blatt tanzt einen Reigen zur verklingenden Melodie. Es ringt mit dem Wind, der meine Haare zerzaust, segelt zur Erde und legt sich zu seinen Geschwistern ins dick gepolsterte Bett von Mutter Natur.
UKo, 1. November 2017